Niklas Kammermeier, M.A.
Universitätsstr. 105
44789 Bochum
Raum: UNI 105, 3/25
Telefon: +49 (0) 234/32-27296
E-Mail: niklas.kammermeier@rub.de
Titel der Dissertation
Zwischen Podium und Pranger. Täterauftritte im Dokumentarfilm
Projektbeschreibung
Ausgangspunkt meines Dissertationsprojekt ist die Beobachtung (1) einer Häufung von Täterfiguren und Täterperspektiven in bestimmten historischen Phasen des dokumentarischen Bewegtbildes (2) der häufigen Verwendung theatraler Mittel (Bühne, Schauspiel, Reenactment, Maske, Kostüm etc.) bei der Inszenierung von Täterfiguren (3) einer Diskursivierung medialen In-Erscheinung-Tretens von Täterfiguren entlang eines Theatralitäts-kritischen Vokabulars („Darf man Tätern eine Bühne geben?“) (4) einer parallel zur Entgrenzung des Kinos stattfindende Migrationsbewegung von dokumentarfilmischen Täterfiguren in unterschiedliche (digitale) Bewegtbildkonstellationen (Fernsehen, On Demand, YouTube, Live-Stream).
Ziel der Arbeit ist zum einen eine mediengeschichtliche Untersuchung der Täterfigur im dokumentarischen Bewegtbild. Gezeigt werden soll, dass sich Täterfiguren seit der Entwicklung analoger Bildmedien im 19. Jahrhundert über spezifische Weisen des Erscheinens vor einem Publikum figurieren. Dabei übernehmen Medien je spezifische Funktionen der Rahmung, Protokollierung und Bezeugung dieses (immer prekären und instabilen) Sichtbar-Werdens. In den Blick genommen werden bestimmte Phasen des Auftretens neuer Medien, welche je neue Formen der Täter-Inszenierungen und -Rahmungen hervorbringen (u.a.: Täterfotografien zum Ende des 19. Jahrhunderts, Möglichkeiten des dokumentarischen Tonfilms während der Befreiung Nazideutschlands durch die Alliierten, Formen des Neo-Fernsehens in den 1980er Jahren, durch das Internet forcierte Formen des Post-Cinemas bis hin zu aktuellen Formen der Verschränkung von sozialen Netzwerken und Live-Streams).
Zum anderen werden ausgewählte Szenen in (postkinematografischen) Dokumentarfilmen einem Close-Reading unterzogen, um zu zeigen, welche konkreten Inszenierungen und Effekte aus den medientechnologischen Bedingungen hervorgehen bzw. wie diese Bedingungen in dokumentarfilmischen Inszenierungen reflektiert und re-mediatisiert werden.
Zentraler Begriff und Analysemethode ist dabei der aus der deutschsprachigen Theatertheorie entnommene und von mir für die Dokumentarfilmtheorie adaptierte Begriff des Auftritts. Mit dem Begriffsrepertoire des Theaterwissenschaftlers Ulf Otto können (Täter-)Auftritte entlang dreier ästhetischer und sozialer Operationen beschrieben werden. 1) Ostentation: Täterauftritte trennen zwischen Handelnden und Zuschauenden. Dabei ist entscheidend, dass bereits die Tat als gewaltsame Trennung von Handelnden und solchen, die zum Zuschauen gezwungen werden, konzeptualisiert werden kann. Die soziale Dimension und gleichsam die ‚Gefährlichkeit‘ des Täterauftritts liegt daher im „Theater der Wiederholung“ (Deleuze) begründet, welches die ‚Urszene‘ der Tat in der Exponierung des Täters wieder-holt, dabei (erneut) ein Publikum hervorbringt und an die Auftrittssituation bindet. Die theatrale Leitdifferenz von Handeln und Darstellen wird so zum zentralen Gegenstand der Aushandlung im Täterauftritt. Täterauftritte können eine solche Differenz retrospektiv (Auftritte bezeugen eine Tat) oder prospektiv (Auftritte kündigen eine Tat an) operationalisieren. Besondere Aufmerksamkeit verdienen jedoch auch solche Situationen, in welchen Täter-Darstellungen selbst Gewalt-tätig werden oder, wie im Falle aktueller Gewalttaten (Christchurch, Halle) durch neue Wege der Bildübertragung (Live-Stream) (Selbst-)Darstellung und Gewalthandlung bis zur Ununterscheidbarkeit konvergieren. 2) Figuration: Täter figurieren sich und entfalten ihre Wirkung aus einem Überschuss an Aufmerksamkeit. Im Idealfall entsteht so eine Figur, welche durch außeralltägliche Präsenzeffekte Blicke bündelt, Aufmerksamkeit aufrechterhält und relativ stabile Konturen eines (Selbst-)Bildes projiziert. Wie mit der Literaturwissenschaftlerin Juliane Vogel gezeigt werden kann, ist das Gelingen einer solchen Figur niemals sichergestellt. Daher sind sowohl auf Seiten der Auftretenden als auch der ‚Regisseure‘ das Einhalten bestimmter „Auftrittsprotokolle“ (Vogel) notwendig. Erst diese Skripte, oder ‚Auftrittsregeln‘, gewährleisten eine Bändigung der „Krisenstruktur“ des Auftritts. Diese Protokolle erhalten für den Täter eine besondere Relevanz, da sein Auftreten einen gesellschaftlichen Status Quo gefährdet, nicht zuletzt, wenn Auftrittsprotokolle (des Helden, des Stars, des Märtyrers, des Pro-Gamers) vom Täter okkupiert und umgeschrieben werden. 3) Mediation: Diese prekäre Verfasstheit jedes Täterauftritts verlangt nach Vermittlung, Rahmung und Deutung, nicht nur der Tat sondern auch des Auftritts. Täterauftritte sind deswegen stets in komplexe Formen der medialen Aushandlung, nicht zuletzt in kompetitive Diskurse um Deutungshoheit eingewoben. Zentrale These der Arbeit ist dabei, dass die Vermittlungsdimension des Täterauftritts nicht erst mit retrospektiven Verfahren der Deutung und Einhegung, etwa in journalistischen oder wissenschaftlichen Diskursen beginnt, sondern bereits im Ereignis des Erscheinens durch spezifische Inszenierungsverfahren performativ operationalisiert wird. In den Blick gerät dabei nicht nur das innerdiegetische, oft reflexive In-Szene-Setzen von Tätern sondern auch die jeweiligen medialen Ensembles (Kino, Fernsehen, YouTube) welche Täterauftritte und Tätersubjekte erst hervorbringen und entscheidend an der Steuerung von Sichtbarkeit und ihren Effekten beteiligt sind.
Wissenschaftlicher Werdegang
- Seit März 2017: Wissenschaftlicher Mitarbeiter (Promotion) am DFG-Graduiertenkolleg „Das Dokumentarische. Exzess und Entzug“, Ruhr-Universität Bochum
- Oktober/2013 bis Dezember/2016: Masterstudium „Inszenierung der Künste und der Medien“, Universität Hildesheim
- Oktober/2009 bis Dezember/2013: Bachelorstudium „Szenische Künste“, Universität Hildesheim
Lehrveranstaltungen
- Seit 2017: Dozent für Videoschnitt am Institut für Medien und Populäre Kultur, Universität Hildesheim
- Sommersemester 2015: Tutorium im Schnittlabor des Instituts für Medien und Populäre Kultur, Universität Hildesheim
- Sommersemester 2015: Seminar „Reenactment im Dokumentarfilm“, Institut für Medien und Populäre Kultur, Universität Hildesheim
- Sommersemester 2014: Wissenschaftlich-künstlerisches Projekt „(Selbst-)verschwendung dokumentieren“, im Rahmen des Projektsemesters 2014 am Institut für Medien und Populäre Kultur, Universität Hildesheim
Publikationen
„The Making Of a Screen Image.“ In: Re- and Dissolving Mimesis. Reflections on LoL History. Hg.: Elisa Linseisen, Sebastian Althoff, Maja-Lisa Müller und Franziska Winter; Bielefeld: Fink, 2020 (im Erscheinen)
„Allzu oberflächlich.“ In: Exzess und Entzug: Ferres vor Gursky, Ferres vor Immendorf. Hg.: Friedrich Balke, Natalie Binczek, Maren Haffke und Simon Rothöhler; Spector Books: Leipzig, 2020 (im Erscheinen)
„Die Wirklichkeit des Clowns. Post-kinematografische Heimwege.“ In: cargo. Film Medien Kultur (online: https://www.cargo-film.de/kino/joker/), 2019
„Es wird ein Tag kommen. Wie die infamen Dokumente eines Medienereignisses der alten BRD die Zeit überdauert haben.“ In: cargo. Film Medien Kultur (Ausgabe 36/ Dez. 2017)
Vorträge
„Wundkanal (1984) als Ritual der Grausamkeit.“ Vortrag im Rahmen der Summer Academy ‚Media Philology 2019‘, Rutgers University, New Brunswick, NJ, USA, 27. – 29.08.2019
“Post-Cinematic Perpetrators. Theatricality as means of (reflections on) torture in Wundkanal (1984).” The NECS 2019 Conference, Gdansk, Polen, 13. – 15.06.2019
„Täterauftritte im Dokumentarfilm.“ Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung Das Dokumentarische II, Ruhr Universität Bochum, 24.01. 2019
„Monitoring Perpetrators.“ Vortrag im Rahmen des Workshops „Reflections on LOL History“, DFG-Forschungsgruppe „Medien und Mimesis“, Akademie der Bildenden Künste, München, 11. – 12.01.2019
„Verhör, Auftritt, acousmêtre – Räume des Audio-Monitorings in ‚Mindhunter‘.“ 31. Film- und Fernsehwissenschaftliches Kolloquium, Ruhr Universität Bochum, 13. – 15.02.2018
„Hot Mugshots: Corporeality in Perpetrator Photographs.“ Double Exposures: Perpetrators and the Use of Photographs, Mechelen, Belgien, 11 – 13.01.2018