Forschungsprogramm

Das Graduiertenkolleg behandelt – seit seinem Start im Jahr 2016 – das Dokumentarische als eine zentrale Komponente zeitgenössischer Medienkulturen. In der zweiten Förderphase des Kollegs – 2021-2025 – soll ein Konzept des Dokumentwerdens entfaltet werden, das die Praktiken und technischen Innovationen erfasst, die das Feld des Dokumentierbaren hervorbringen und transformieren. Die im Kolleg organisierte Forschung trägt dabei einerseits den digitaltechnisch angetriebenen Tendenzen einer umfassenden Einschreibung des Dokumentarischen in den Alltag Rechnung und problematisiert andererseits aktuelle politisch motivierte Verwerfungen einer jeden dokumentarisch verbürgten Wahrheit.

Das Forschungsprogramm lässt sich von der These leiten, dass die spezifische Autorität des Dokumentarischen durch die Untersuchung der Operationen beschreibbar wird, die im Rahmen unterschiedlicher Institutionen und Praktiken auf je spezifische Weise bild-, text- und tonmediale Elemente arrangieren, um so die Lesbarkeit, den Aussagewert, die Distributionslogiken und die Machtwirkungen des Dokumentierten zu steuern. Entgegen einer einflussreichen Theorietradition beschränkt das Forschungsprogramm seine Perspektive in diesem Sinne explizit nicht auf den visuellen Modus des Dokumentarischen und privilegiert auch nicht ein bestimmtes (etwa filmisches) Medium. Bild, Text und Ton können in sehr unterschiedliche wechselseitige Beglaubigungsverhältnisse eintreten, um einen dokumentarischen Effekt zu produzieren. Verfahren und Stile des Dokumentarischen kommen auch dort zum Einsatz, wo sich Wissenschaften (häufig im Kontext ganz spezifischer institutioneller Anforderungen) mit der Produktion und Klassifikation ‚menschlicher Tatsachen‘ (Affekte, Verhaltensweisen, soziale Verbindungen) beschäftigen. Sie werfen Fragen nach der Wahrheit bzw. Objektivität des Dokumentierten, nach der Funktion von Formularen und Protokollen bzw. Standards, die den dokumentarischen Bezug regulieren, sowie nach dem Verhältnis unterschiedlicher dokumentarischer Modi, den Techniken der Archivierung, des Zugangs zu den Dokumenten und ihrer Zirkulation auf.

Der Intensität dokumentarischer Erfassung steht in theoretischer wie mediengeschichtlicher Hinsicht ein Reflexionswissen zur Seite, das die Formen und Programme dokumentarischer Erfassung seinerseits noch einmal zu beobachten erlaubt. Im Untersuchungszeitraum des Kollegs treffen immer wieder Figuren und Programmatiken des dokumentarischen Exzesses auf solche des dokumentarischen Entzugs. Diese Dialektik, so lautet eine der Grundannahmen des Forschungsprogramms, ist insgesamt für die Geschichte und Theorie des Dokumentarischen konstitutiv. So entstehen spätestens seit der kulturellen Etablierung technischer Analogmedien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (und damit lange vor der Schwelle der gegenwärtigen digital basierten Erfassungs- und Kontrollregimes) wirkungsmächtige Utopien oder Dystopien des Dokumentarischen, die eine audiovisuelle Komplettverdatung der Wirklichkeit in Aussicht stellen. Umgekehrt lassen sich für die unterschiedlichen Medien der dokumentarischen Bezugnahme vielfältige Formen der Durchkreuzung und Zurücknahme dieses Exzesses beobachten: Der dokumentarische Exzess ist untrennbar von der Erfahrung eines Entzugs. Der Anspruch auf äußersten ‚Realismus‘ einer Darstellung wird von Momenten und Effekten einer unvermeidlichen oder gezielt herbeigeführten Derealisierung durchzogen.

Das Graduiertenkolleg wird in seiner zweiten Förderphase diesen Ansatz in Richtung einer Theorie des ubiquitären Dokumentierens weiterentwickeln, deren Differenzqualitäten zu anderen – vor allem digitalen – Ubiquitäten herauszuarbeiten sind. Dabei sollen die performativen Spielräume ausgelotet werden, die durch die Thematisierung, Aneignung und Verhandlung dieser dokumentarischen Modi in Literatur, Theater, Film und der bildenden Kunst ermöglicht werden. Zum einen spielen im Zeitalter sozialer Medien und ihrer Angebote zur umfassenden und instantanen Selbstdokumentation immer stärker amateuristische Praktiken eine Rolle, deren Spektrum von extrem normierten bis hin zu experimentellen Formen reicht. Zum anderen haben sich in den letzten Jahren Forschungen zu Sensornetzwerken verstärkt, die das Dokumentarische „im Ambiente“ situieren und auf seine Funktionen für die zeitgenössischen virtualisierten Lebenswelten untersuchen.

Was in der medien- und kulturwissenschaftlichen Forschung noch weitgehend aussteht und wozu das Graduiertenkolleg einen Beitrag leisten möchte, ist eine systematische Beschäftigung nicht nur mit dem digital induzierten Wandel dokumentarischer Formen, sondern mit der Entwicklung hin zu einer umfassenden, plattformgestützten Ökologisierung des Dokumentarischen. Diese hängt in technischer Hinsicht zum einen von einer hochgradig distribuierten Bildtechnologie ab (konkret: dem Verbreitungsgrad von Handykameras), zum anderen von einer Durchsetzung alltäglicher Umwelten mit digitalen Sensoren, die sinnlich Erfahrbares in verteilbare digitale Daten umwandeln und eine umfassende Auswertung durch technische Vernetzungen ermöglichen. Eine derartige Verschmelzung datenerhebender Operationen mit zeitgenössischen Lebenswelten situiert darauf aufbauende dokumentarische Prozesse in einem Bereich, für den die Medienwissenschaft den Begriff der Infrastruktur reserviert.

Arbeitsbereiche

Die interdisziplinär ausgerichtete Beschäftigung mit dokumentarischen Operationen geschieht in den vier Die interdisziplinär ausgerichtete Beschäftigung mit dokumentarischen Operationen geschieht in den vier Arbeitsbereichen „Formengeschichte und Theoriebildung des Dokumentarischen“, „Bild- und Textkulturen des Dokumentarischen“, „Selbstdokumentation und Affektkulturen“ sowie „(Techno-)Politiken und Ästhetiken des Dokumentarischen“.

AB 1 | Formengeschichte und Theoriebildung des Dokumentarischen

Innerhalb der ersten Förderphase hat sich der AB 1 erfolgreich als der notwendige Ort eines übergeordneten, auf Begriffe, Konzepte und historische Zäsuren fokussierten Austauschs etabliert. Die grundlagentheoretische Ausrichtung dieses ABs hat wichtige Funktionen für die übrigen Arbeitsbereiche. Aktuelle Debatten zum Dokumentarischen aus der medien-, literatur-, theater- und kunstwissenschaftlichen Forschung, aus Wissenschaftsgeschichte und dem Feld der digitalen Kulturen lassen sich dort bündeln und einer neuartigen Theoriebildung des Dokumentarischen zuführen. Der AB 1 befasst sich vor diesem Hintergrund mit der Frage, wie charakteristische, historisch wiederkehrende Operationsweisen des Dokumentarischen und Modi des Dokumentwerdens systematisch beschrieben und in bestimmte disziplinär übergreifende Traditionsstränge eingeordnet werden können. Die Dialektik von Exzess und Entzug, die den dokumentarischen Impuls und die Ausdifferenzierung seiner medialen Praktiken bestimmt, hat sich dabei im Rahmen der Forschungsaktivitäten des Kollegs als ambivalenter erwiesen als zunächst vermutet. Dies zeigt sich insbesondere in Entwicklungen, in denen der Exzess dokumentarische Autoritätsansprüche („So ist es gewesen“) unterläuft (statt sie bloß zu verfestigen) und der Entzug restaurative Effekte hervorbringt, zum Beispiel dann, wenn im Kontext populistischer Strategien das ‚Recht auf die eigene Wahrheit‘ behauptet und die dokumentarische Beweiskraft ganz grundsätzlich bestritten oder in den Dienst der Beförderung politischer Fiktionen gestellt wird.

AB 2 | Bild- und Textkulturen des Dokumentarischen

Der AB 2 geht von der grundlegenden Beobachtung aus, dass Dokumentieren einerseits auf Medientechnologien angewiesen und andererseits an spezifische Poetiken und Ästhetiken gebunden ist, die den jeweiligen Medieneinsatz steuern. Damit rücken automatisch mediopoetische und -ästhetische Beziehungsgeflechte in den Blick, die auf ihre Anordnungen durch Foto, Layout, Stimme, Text und (Bewegungs-)Bild hin untersucht, mithin als Hybrid und Collage von Text, Visualität und Ton verstanden werden können. Der AB 2 führt diese in der ersten Förderphase erfolgreich erprobte Perspektive fort, erweitert sie jedoch in mehrfacher Hinsicht. Unter dem neuen Titel „Bild- und Textkulturen des Dokumentarischen“ verschiebt sich der Fokus auf die Analyse medientechnischer Instrumentarien und Praktiken sowie der Produktionsprozesse und Infrastrukturen, die an der Hervorbringung, Distribution und Archivierung literarischer, tonaler und filmischer Artefakte sowie an der Zuschreibung dokumentarischer Qualitäten mitwirken. Anstelle einer leitmedialen Engführung des Dokumentarischen mit jeweils neuen Medientechnologien konzipiert der AB 2 das Dokumentarische als Verflechtungsgeschehen von Diskursen, Institutionen und Praktiken in Schrift, Bild und Ton, die in ihrer dokumentarischen Signalwirkung analysiert werden. Wesentliche Aufmerksamkeit gewinnt daher die unablässige Neuverhandlung dokumentarischer Signaturen, die in kulturpolitische, pädagogische, ökologische sowie technische Bezüge hinein reichen und überhaupt erst als solche identifiziert werden müssen.

AB 3 | Selbstdokumentation und Affektkulturen

Im Zentrum von AB 3 steht die Selbstdokumentation als spezifische Form des Dokumentarischen und als besonderes Kennzeichen medialer Affektkultur. Die grundlegende Dynamik von Exzess und Entzug des Dokumentarischen wird an der Verschränkung zwischen Selbstdokumentation, dokumentarischen Gesten und der Emergenz neuer gegendokumentarischer Formen greifbar. Um sie zu untersuchen, werden in diesem AB die Historiografie und Theorie der Selbstdokumentation mit Medientheorien des Affektiven sowie gender- und queertheoretischen Affektkulturanalysen zusammengeführt. Der Begriff der dokumentarischen Geste ist für diesen AB von zentraler Bedeutung, weil er die Proliferation dokumentarischer Praktiken sowohl synchron als auch diachron durch verschiedenste kulturelle Räume und gesellschaftliche Bereiche zu denken erlaubt und das Dokumentarische in Prozessen einer zugleich kommunikativen Übertragung und körperlichen Aneignung situiert. Die in diesem Arbeitsbereich angesiedelten Projekte sollen das Spannungsfeld zwischen umweltlichen, potentiell selbstverstärkenden Affektkulturen und den oft singulären Gegendokumentationen in Blogs, Fotografien oder Performances erforschen. In Übereinstimmung mit den mediengeschichtlichen Interessen, die auch in den anderen Arbeitsbereichen verfolgt werden, soll in der zweiten Phase im AB 3 das historische Apriori der neueren Experimente auf den Gebieten populärer Online-Selbstdokumentation, der Video- und Performance Art sowie des dokumentarischen Theaters näher beleuchtet werden.

AB 4 | (Techno-)Politiken und Ästhetiken des Dokumentarischen

Der AB 4 befasst sich mit der digitalen Eskalationsdynamik des Dokumentarischen, die mit einer umfassenden Datafizierung von Alltag und Lebenswelt einhergeht. Ausgangspunkt der Untersuchungen sind die medientechnischen Prozesse und Infrastrukturen einer multisensorisch ausdifferenzierten Umgebungsbeobachtung, die nicht nur automatisch erfassten Umwelteigenschaften gilt, sondern auch menschliches Handeln und Verhalten sensorisch dokumentiert. Der AB 4 ist vor diesem Hintergrund gerade auch am kritischen Potential von massenhaft zirkulierenden, sozialmedial geteilten Digitalbildern und -tönen interessiert, die in politischen Konfliktzonen entstehen und damit unabhängige, staatlich nicht beeinflusste Investigationen ermöglichen, die ansonsten unbeobachtbar blieben.

Ausgehend von forensischen Einsätzen – prominent vertreten durch Investigativprojekte wie Forensic Architecture oder Bellingcat – soll in der zweiten Förderphase das über verschiedene menschliche und nicht-menschliche Akteure verteilte Dokumentwerden von digital zirkulierendem Material näher untersucht und dokumentartheoretisch konzeptualisiert werden. Zu diesem Zweck gilt es, die Produktion dokumentarischer Referenzketten infrastrukturell und medienlogistisch zu untersuchen. Und zwar mit dem Ziel, die Kette der Übersetzungen transparent zu machen, die dazu führt, dass sich medientechnisch generierte Sensoriken in Gesten, Erzählungen und dramatische Zuspitzungen überführen lassen, die das Dokumentarische auch als rhetorische Praxis zu analysieren erlauben. Ausgehend von forensischen Einsätzen zeichnet sich ein Konzept von Politik ab, das an Instanzen und Fähigkeiten zur Produktion von Aussagen gebunden ist, die nicht in einem gegebenen Wissens- oder Erfahrungsfeld identifizierbar sind. Die Möglichkeit dieser Aussagen geht vielmehr mit der Neuordnung des Erfahrungsfeldes einher und begünstigt die Herausbildung neuer Formen der politischen Urteilskraft.