Das Graduiertenkolleg veranstaltet im Sommersemester seine nunmehr dritte Ringvorlesung zum Thema „Das Dokumentarische III: Projekte und Positionen“. Diese wird zweiwöchig Donnerstags von 10 bis 12 Uhr per Zoom stattfinden. Weitere Informationen zu den einzelnen Vorträgen folgen in Kürze.
Veranstaltungsinfo:
Das Graduiertenkolleg behandelt – seit seinem Bestehen im Jahr 2016 – das Dokumentarische als eine zentrale Komponente zeitgenössischer Medienkulturen. In der zweiten Förderphase des Kollegs – Beginn im April 2021 – soll insbesondere ein Konzept des Dokumentwerdens entfaltet werden.
Die interdisziplinären Forschungsarbeiten des Kollegs aus den Bereichen Medienwissenschaft, Theaterwissenschaft, Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte lassen sich alle von der These leiten, dass die spezifische Autorität des Dokumentarischen durch die Untersuchung der Operationen beschreibbar wird, die im Rahmen unterschiedlicher Institutionen und Praktiken auf je spezifische Weise bild-, text- und tonmediale Elemente arrangieren, um so die Lesbarkeit, den Aussagewert, die Distributionslogiken und die Machtwirkungen des Dokumentierten zu steuern. Entgegen einer einflussreichen Theorietradition beschränkt das Forschungsprogramm seine Perspektive in diesem Sinne explizit nicht auf den visuellen Modus des Dokumentarischen und privilegiert auch nicht ein bestimmtes (etwa filmisches) Medium. In den Forschungsprojekten stehen vielmehr höchst diverse Gegenstände im Fokus, die in wechselseitige Beglaubigungsverhältnisse eintreten können, um einen dokumentarischen Effekt zu produzieren.
Die nach 2017 und 2018 nunmehr dritte Ringvorlesung des Kollegs soll erneut dazu dienen, zentrale Forschungsergebnisse zu präsentieren und darüber mit Hochschulangehörigen aus allen Fachrichtungen ins Gespräch zu kommen. Sowohl Doktorand_innen, Post-Doktorand_innen als auch die am Kolleg beteiligten Professor_innen kommen hierbei zu Wort. Zudem wird viel Zeit für gemeinsame Diskussionen eingeplant, an denen sich alle Anwesenden gerne rege beteiligen können.
Programm der Vorlesung:
22.04.21 |
Friedrich Balke
6,9 Sekunden Hitze und Licht. Wirklichkeitsbegriffe und die Möglichkeiten des Dokumentarischen.
Moderation: Tilman Richter
Vortrags-AbstractDer Wirklichkeitsbegriff hat eine Geschichte. Ausgehend von den Stationen dieser Wirklichkeitsgeschichte, die Hans Blumenberg entfaltet hat, behandelt der Vortrag das Verhältnis von Dokumentwerden und dokumentarischer Stagnation. Im Mittelpunkt steht das Paradox einer „endlosen Untersuchung“ (Luc Boltanski), die zu Störungen der dokumentarischen Referenz führt und damit die für die Forschungsagenda des Graduiertenkollegs zentrale Dialektik von dokumentarischem Exzess und Entzug aufruft. Mich interessieren Schranken oder Blockaden des dokumentarischen Prozessierens, die aus einer Überfülle von Dokumenten resultiert. Die dokumentarische Stagnation stellt in Frage, was ich die Trajektorie des Dokumentarischen nenne.
Da Blumenberg die Auswirkungen eines gestörten Wirklichkeitsbezugs an der Form des Romans erörtert, dessen narratives Versprechen einer „Wirklichkeit als sich konstituierender Kontext“ uneinlösbar ist, erläutere ich meinerseits diese Konstellation am Beispiel eines großen Romans aus den 80er Jahren, in dem das Dokumentarische in den Sog einer Verschwörungsgeschichtsschreibung gerät. Don DeLillos Libra zeigt die Grenzen der dem Roman aufgegebenen narrativen Wirklichkeitsdarstellung im expliziten Rekurs auf ein Phänomen auf, für das wir heute das Buzzword Big Data verwenden und das der Roman weniger appetitlich als „Datenjauche“ adressiert. Im zweiten Teil des Vortrags beschäftige ich mich vor diesem Hintergrund und im Kontext meines Projekts zur „Dokumentarischen Urteilskraft“ am Beispiel eines Textes von Susan Shuppli zum Watergate Tape 342 mit der Rolle, die im Kontext der Ermittlungsarbeit von Forensic Architecture die Einbildungskraft und ein überraschendes Bekenntnis zur Datenspekulation spielen. In Shupplis Lob einer forensic imagination wird die Wirklichkeit als sukzessive sich konstituierende Verlässlichkeit kassiert.
06.05.21 |
Jörn Etzold
Extraktive Prozesse. Dokumentation und Recht in Milo Raus Kongo Tribunal
Moderation: Julia Schade
Vortrags-AbstractDas Kongo Tribunal ist der Titel eines 2017 produzierten Dokumentarfilms und eines im gleichen Jahr erschienenen Materialbands. Ihr Gegenstand ist eine Veranstaltung, die wiederum als Aufführung des „dokumentarischen Theaters“ verstanden werden kann: Der Schweizer Regisseur Milo Rau berief vom 23.-25. Mai 2015 im Collège Alfajiri in Bukavu im Ostkongo und vom 26.-28. Juni im Theater Sophiensaele in Berlin zwei gerichtsähnliche Versammlungen ein. Gegenstand der Prozesse waren drei „Fälle“, anhand derer Enteignungen und Vertreibungen sowie militärische und paramilitärische Gewalt bis hin zu Massakern an der Zivilbevölkerung verhandelt wurden, die im Zusammenhang mit der Ausbeutung der reichen Rohstoffvorkommen des Ostkongo durch multinationale Konzerne standen. Rau gelang es, Opfer, Rebellen, Vertreter*innen der Zivilgesellschaft, der Regierung und der beteiligten Firmen vor einer – in Bukavu vor allem mit kongolesischen Anwälten, Politikern und Aktivistinnen besetzten – internationalen Jury aussagen zu lassen.
Diese Arbeit wirft viele komplexe und vertrackte Fragen auf, die in der Vorlesung entfaltet werden sollen. Welche extraktiven Prozesse sind hier am Werk – in der globalen und kreditgesteuerten Rohstoffökonomie ebenso wie im Geflecht der europäischen, staatlich finanzierten Theaterarbeit? Welche Rolle spielen die Dokumente und die Körper als Dokumente in dieser Szene des Gerichts ohne rechtsprechende Kraft? Welches Verhältnis von Recht und Theater wird vorausgesetzt und aufs Spiel gesetzt? Welches Modell des Rechts liegt dem Tribunal zugrunde?
20.05.21 |
Monika Schmitz-Emans & Vanessa Klomfaß
„Natürlich (k)eine alte Handschrift“. Konstruktionen dokumentarischer Handschriftlichkeit im Rahmen literarischer Fiktionen.
Moderation: Fynn-Adrian Richter
Vortrags-AbstractHandgeschriebenen und manuell signierten Texten wird oft der Status von Dokumenten zugeschrieben. Seit sich manuelle Schriftzüge technisch reproduzieren lassen, können auch solche Reproduktionen in Dokumentationspraktiken einbezogen werden. (Damit verbunden sind vielfach Authentifizierungsversuche.) In Druckwerken mit literarischen Texten spielen Reproduktionen von Handschriftlichem unterschiedliche Rollen. Sie können etwa für die Konstruktion fiktionaler Welten respektive für deren fingerte Authentifizierung herangezogen werden; sie können jedoch auch dazu dienen, Authentifizierungs- und Dokumentierungsgesten spielerisch zu dekonstruieren. Neben reproduzierte Handschriften treten dabei im Übrigen technisch bearbeitete oder durch den erkennbaren Einsatz typographischer Mittel simulierte Schriftzüge mit der Anmutung von Handschriftlichkeit. Meist wird die Rezeption der verschiedenen Spielformen von Handschrift in literarischen Texten durch einen Fiktionspakt reguliert, analog zu Konstruktionen gedruckter Texte, die von sich behaupten, auf ‚alten Handschriften‘ zu basieren. Interessanter sind die weniger eindeutigen Fälle.
Ein erster Teil der Vorlesung umreißt skizzenhaft das Themenfeld der „Handschrift“ in Werken literarischer Fiktion. Ein zweiter Teil gilt der Präsentation konkreter Beispiele: Vorgestellt werden verschiedene Werke der sogenannten ‚multimodalen Literatur‘ wie J. J. Abrams und Doug Dorsts S. (2013), Alex Irvines New York Collapse (2016) sowie die unkonventionellen Briefromanen der Griffin&Sabine-Reihe von Nick Bantock (1991-2016).
17.06.21 |
Carina Dauven
Von technischen Einschreibungen, instruktiven Gesten und performierten Operationen: Frühe Porträtkonzepte in der fotografischen Handbuch- und Journalliteratur
Moderation: Julia Reich
Vortrags-AbstractDas frühe Porträtatelier ist nicht nur die Bühne fotografischer Selbstinszenierungen, sondern auch Werkstatt anwendungsbezogener Forschung, die sich durch Experimente mit den Variablen „Licht“, „Körper“ und „Kamera“ in diesem ersten Dispositiv fotografischer Selbsteinschreibung vollzieht. Die Handbuchautor:innen selbst beschreiben den fotografischen Akt als Operation, eine Denomination, die die Versatzstücke und Handlungen der fotografischen Porträtpraxis anbindungsfähig für eine epistemologische sowie eine praxeologische Lesart machen. Sinn und Zweck der Anweisungsliteratur ist es nämlich, die Operation Porträtaufnahme in ihre einzelnen Schritte aufzuschlüsseln und auf verständliche Art vermittelt, wiederholbar zu machen. Ein Ateliersetting, das aus der Handbuchliteratur (re)konstruiert bzw. errichtet wurde, das basierend auf den Instruktionen ausgestattet und ausgeleuchtet wurde und in dem anhand von technischen wie ästhetisierenden Leitfäden der Vorgang der eigentlichen Porträtaufnahme von Atelierfotograf:innen und Atelierbesucher:innen gleichermaßen performativ nachvollzogen wird, generiert eine Vielzahl an Porträtaufnahmen, die aller Individualisierungsbestreben zu Trotz, doch eigentlich austauschbar sind und vielleicht weniger die Bildwerdung eines Individuums markieren, als die Sichtbarwerdung in einem medialen Dispositiv und einer nun über Bilder kommunizierenden Gesellschaft. In meiner Vorlesung widme ich mich diesem in der Anweisungsliteratur verhandelten Spannungsfeld von technischen Einschreibungen, den sich aus dem Handbuch in das Atelier erstreckenden instruktiven Gesten und den performierten Operationen von Atelierfotograf:innen und Atelierbesucher:innen.
Philipp Hohmann
N.O.Body’s queer appearances. Erscheinung, Anerkennung und Opazität in Filminstallationen von Boudry/Lorenz
Moderation: Julia Reich
Vortrags-AbstractIn Boudry/Lorenz Filminstallation N.O.Body (2008) wird scheinbar ein Bild, eine Fotografie lebendig, genauer: Eine Carte de Visite aus dem 19. Jahrhundert, die die ‚Bartdame‘ Annie Jones zeigt. Ein*e Doppelgänger*in oder eine Verkörperung ihres Bildes (Werner Hirsch) schreitet im Film des Künstlerinnenduos durch einen menschenleeren Hörsaal, zeigt uns weitere Bilder und bricht – scheinbar völlig grundlos – in Lachen aus. Entstanden aus einer Auseinandersetzung mit Magnus Hirschfeld, dem Begründer der deutschen Sexualwissenschaft und seiner Bildersammlung verschieben Boudry/Lorenz die von Hirschfeld im wissenschaftlichen Dispositiv nutzbar gemachten, äußerst heterogenen Bilder (wieder) in den Bereich der Kunst. Dabei werden Bedeutungshorizonte, die in der Operationalisierung der wissenschaftlichen Verwendung verdeckt wurden, wiedereröffnet und in einer medial vermittelten, performativen Annäherung, weitere hinzugefügt. Dieser Vortrag entwickelt entlang von N.O.Body die Frage, inwiefern in der komplexen Arbeit von Boudry/Lorenz, insbesondere durch ihren Umgang mit Medien und Körpern bzw. deren wechselseitigem Bezug, so etwas wie „queer appearances“ denk- und sichtbar werden. Entlang der Begriffe Opazität und Anerkennung wird nach der (Un-)Möglichkeit, den Bedingungen und den potentiellen Folgen eines Erscheinens gefragt, das sich bestehenden Ansprüchen an Transparenz oder Erkennbarkeit (etwa in Bezug auf Geschlecht und Begehren) bis zu einem gewissen Grad entzieht. Wenn Anerkennung, mit Judith Butler als „Ort der Macht, durch die das Menschliche verschiedenartig erzeugt wird“ zu verstehen ist, lässt sich Fragen, welche Folgen ein Beharren auf Opazität dann für die eigene Anerkennbarkeit als Mensch hat und was damit für wen auf dem Spiel steht.
01.07.21 |
Elisa Linseisen
„For documentaries, there are awards and festivals but no platform“. Protodokumentarismen der National-Geographic-App
Vortrags-Abstracttba.
15.07.21 |
Julia Schade
The Sea is History: Ozeanische Zeitlichkeit in John Akomfrahs Vertigo Sea
Moderation: Friedrich Balke
Vortrags-AbstractDas Meer wird oft als dasjenige Medium beschreiben, durch welches die Moderne zu sich selbst findet und sich auf ihren Begriff bringt. Aber gerade in den letzten Jahren ist zunehmend eine dekoloniale Auseinandersetzung mit dem Ozean zu beobachten: Für viele Denker:innen aus dem Bereich der Black Radical Tradition, der Black Studies und dem Black Feminism ist der Ozean zu einer entscheidenden Denkfigur für das Gewaltgefüge von Kolonialismus, Kapitalismus und liberaler Moderne, für die Verstrickungen von Erinnerung, Trauma und Widerständigkeit geworden. Im Denken von Édouard Glissants
Poetics of Relation, Derek Walcotts
The Sea is History, Paul Gilroys
Black Atlantic oder auch Christina Sharpes
Wake Work birgt der Ozean eine Zeitlichkeit des Nachlebens, die von jenem Verdrängtem und Vergessenen der Geschichte zeugt, sich dabei aber nicht einfach auf bekannte Weise belegen, erzählen oder darstellen lässt.
Vor diesem Hintergrund nimmt der Vortrag die installative Arbeit Vertigo Sea des britisch-ghanaischen Künstlers John Akomfrah in den Blick und zeigt auf, wie darin der Zusammenhang von Racial Capitalocene und kolonialem Ungedachten der Moderne verhandelt wird – und zwar als eine ozeanische Zeitlichkeit, deren spatialized relationality einen ziemlich schwindelig werden lässt.