Susanne Nienhaus, M.A.
Universitätsstr. 105
44789 Bochum
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Titel der Dissertation
Berichten aus dem Betrieb. Der Arbeitsalltag der industriellen Produktion als Kontext und Gegenstand dokumentarischen Schreibens (1890–1933). (Arbeitstitel)
Projektbeschreibung
Im 19. Jahrhundert verändert sich durch die Industrialisierung nicht nur der konkrete Alltag vieler Menschen, da er durch die Arbeit in den Fabriken gleichförmiger und regulierter wird, sondern auch das Verständnis von Alltag als solchem erfährt einen Wandel. So findet ‚der Alltag‘ als Substantiv in der deutschen Sprache erstmals im 19. Jahrhundert Verwendung und dessen Konnotation mit monotonen, niederen Tätigkeiten, mit Routine, Bedeutungslosigkeit, Plackerei und Langeweile nimmt zu. Neben der kulturgeschichtlichen erfährt der Alltag auch eine neue politische Relevanz, denn gerade die Alltäglichkeit bestimmter Verhältnisse und Vorkommnisse ist nun für deren Bewertung und politische Kritik entscheidend. Die Frage, wie sich Alltäglichkeit angemessen und wirkungsvoll schriftlich darstellen lässt, wird in diesem Sinne für verschiedene betriebliche, epistemische und politische Praktiken und Diskurse relevant.
In meinem Dissertationsprojekt verfolge ich nach, wie diese enge Durchdringung von Erfahrung, Erfassung, Politisierung und Narrativierung des Alltags in schriftlichen Berichten über den industriellen Arbeitsalltag zutage tritt. In ihnen, so eine Grundannahme der Untersuchung, wird nie nur der industrielle Arbeitsalltag als solcher verhandelt, vielmehr geht es immer auch um die Legitimität der Sprecher:in und ihres Zugangs zum Gegenstand. Braucht es einen organisatorischen Überblick über das Betriebsganze oder theoretische Begriffsbildung, um den Arbeitsalltag verstehen und angemessen darstellen zu können? (Wie) ist professionelle und objektive Beobachtung möglich? Sollten vor allem Arbeiter:innen über ihre Erfahrungen im Arbeitsalltag berichten, weil sie zugleich Betroffene und Expert:innen ihres eigenen Alltags sind und politische Subjekte sein sollten? Ist die bürgerliche Öffentlichkeit auf vermeintlich neutrale Journalist:innen aus ihren Reihen angewiesen und müssen diese den Arbeitsalltag am eigenen Leib erleben oder genügt die Beobachtung?
Derartige Fragen nach Situiertheit, Operationen und Beglaubigung der Wissensgewinnung über den industriellen Arbeitsalltag lassen sich reformulieren als Fragen danach, welchen Stellenwert Alltagswissen als oft latentes Praxis- und Erfahrungswissen in den verschiedenen Berichten einnimmt. Um dem nachzugehen, nimmt die Dissertation primär dokumentarische Texte des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts in den Blick, die in dreierlei Form über den industriellen Arbeitsalltag berichten: Erstens steht bürokratisches Alltagswissen im Mittelpunkt und damit solche Dokumentationen des Arbeitsalltags, die selbst als Teil dieses Alltags entstehen und deren Wissen nicht subjektgebunden ist, sondern in und für Prozesse der Verwaltung entsteht. Zweitens geht es um Versuche, fremdes Alltagswissen zu erlangen und zu dokumentieren. Hier stehen vor allem sog. Undercover-Reportagen im Zentrum, wie sie seit Ende des 19. Jahrhunderts entstehen. Zur Erkundung eines fremden Milieus leben deren Autor:innen einige Zeit als vermeintliche Arbeiter:innen unter Arbeiter:innen, um dann einer bürgerlichen Öffentlichkeit von dem so gewonnenen Alltagswissen zu berichten. Einen dritten Schwerpunkt bilden Texte, in denen Arbeiter:innen den eigenen Alltag schriftlich dokumentieren. Hierzu gibt es seit dem 19. Jahrhundert verschiedene Versuche, wichtig wird in meiner Arbeit etwa die Arbeiterkorrespondenzbewegung sein, in der tausende Arbeiter:innen in der kommunistischen Tagespresse Vorkommnisse aus ihrem Alltag in kleinen Berichten veröffentlichen.
Wissenschaftlicher Werdegang
- Seit Oktober 2019: Wissenschaftliche Mitarbeiterin (Promotion) am DFG-Graduiertenkolleg „Das Dokumentarische. Exzess und Entzug“, Ruhr-Universität Bochum
- 10/2014 bis 11/2017: Masterstudium der Neueren Deutschen Literaturwissenschaft, Universität Hannover
- 03/2015 bis 03/2017: Studentische Hilfskraft für Prof. Michael Gamper im DFG-Schwerpunktprojekt „Ästhetische Eigenzeiten“
- 10/2009 bis 09/2014: Bachelorstudium der Germanistik und der Europäischen Literatur, Universität Mainz