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Workshop: Tribunal und Urteilskraft

Vom 02. bis 03. Dezember 2021 findet am Graduiertenkolleg in Kooperation mit Theater Forschung Ruhr der Workshop “Tribunal und Urteilskraft” statt.

Interessierte können sich bis zum 30.11.2021 via Mail an das-dokumentarische@rub.de anmelden.

Über den Workshop

Im Jahre 1983 beklagte der Philosoph Odo Marquard eine „Tribunalisierung der modernen Lebenswirklichkeit“ und behauptete: „Diese Tribunalisierung ist ein Theodizeemotiv der neuzeitlichen Philosophie.“ Ohnehin sei die Theodizee als Ganze neuzeitlich: Je stärker das Leid aus dem alltäglichen Leben verschwinde, umso mehr Zeit bleibe, um Gott für das Leid, das noch übrigbliebe, anzuklagen oder um, in einem weiteren Schritt, die generelle Notwendigkeit des Leids in geschichtsphilosophische Konzepte zu verwandeln. Jene dienten, ebenso wie die modernen Institutionen, der Entlastung. Der Tribunalisierung stehe so, gerade in der deutschen Anthropologie, die Idee der Kompensation gegenüber. Der Mensch, der ständig Tribunal über sich und die Welt hält, kompensiert seine ans Tageslicht gebrachten Mängel durch „Kultur, also durch Technik, Expressivität, Transzendenz“.

Aus französischer Perspektive hat Gilles Deleuze Gericht und Tribunal auf seine Weise in ein Zwielicht getaucht – mit dem Hinweis auf Psychoanalyse und Surrealismus, die gleich bereit gewesen wären, „Tribunale zu eröffnen, die richten und strafen: eine widerliche Manie, die man oft bei den Träumern findet.“ Aber, so die Frage, der der Workshop nachgehen will, lässt sich diese anti-tribunale Kampfrhetorik eines entschiedenen „Schluss mit dem Gericht“ einfach unter veränderten historischen Umständen fortsetzen oder müssen Tribunale nicht auch als Möglichkeiten erkannt werden, eine Urteilskraft ‚spielen’ zu lassen, die sich keineswegs in der Manie zu richten und zu strafen erschöpft? Könnte das Tribunal, weit davon entfernt, der Welt und ihren vielfältigen Leidensquellen einfach nur den metaphysischen Prozess und der Öffentlichkeit ein gutes Gewissen zu machen, einen neuen „Gerechtigkeitskörper“ (Deleuze) schaffen, der vom Körper des Gerichts und seinen Organisationsformen unterscheidbar ist? Könnte es vielleicht darauf ankommen, die Differenz von Gericht und Tribunal trotz aller Überschneidungen aufrechtzuerhalten und zu vertiefen, statt das Tribunal als eine Art modernes ‚Gottesurteil’ zu begreifen?

Nach Kant „sinnet“ das Geschmacksurteil, das ein Subjekt trifft, „jedermann Beistimmung an“. Das Subjekt, das etwas für schön erklärt, empfindet ein Wohlgefallen daran, dass sein Erkenntnisapparat der Welt adäquat ist; zugleich aber überschreitet die Urteilskraft den Rahmen feststehender Begriffe und Normen, ohne deshalb den Anspruch auf allgemeine Zustimmung einzubüßen. Denn die Urteilskraft lässt sich im Unterschied zum Erkenntnisurteil bei Kant gerade nicht auf das juristische Modell der Subsumptionslogik festlegen, da sie einen „Spielraum“ der Verhandlungen konfliktueller Situationen und ‚Streit-Welten’ eröffnet. Dieser Spielraum einer öffentlichen Rechenschaftslegung, die Kant als das Wesen der Kritik betrachtete, ist nicht durch die Existenz von juristischen Codes bzw. Gesetzesbüchern eingeschränkt und untersteht somit nicht der „Gesetzeskraft“ (Derrida), sondern ermöglicht die Bezeugung und Dokumentation der komplexen Umstände historischer Ereignisse, für die neue Darstellungs- und Partizipationsformen gesucht werden.

Mit welcher Urteilskraft wird der Status des Dokumentarischen bewertet? In welchem Zusammenhang steht die ubiquitäre und affektive Tribunalisierung aller Arten von Äußerungen in den sozialen Medien mit den Konzepten einer Urteilskraft, die Tatsachen und Einbildungskraft in ein verändertes Verhältnis setzt, das Hannah Arendt zufolge die Essenz des Politischen ausmacht? Jenseits der von Marquard spöttisch diagnostizierten Funktion des Tribunals als Anklage eines eigentlich nicht mehr alltäglichen Leids bekommen Tribunale seit der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts auch die Funktion, staatlich beförderte oder staatlich nicht explizit sanktionierte, sogenannte strukturelle Gewalt sichtbar zu machen und Verantwortlichkeiten auszuhandeln, so in den Vietnam und Palästina-Tribunalen oder den Arbeiten von Milo Rau zur Gewaltgeschichte Kongos oder zur Unterdrückung der Opposition in Russland. Aber gleichzeitig ist dem Verdacht nachzugehen, dass es sich auch in diesen Fällen wieder um Strategien der intellektuellen Entlastung (der Zuschauenden) handelt. Vor dem Hintergrund einer Aneignung des Tribunals durch den Gerichtsmechanismus (z.B. Internationaler Strafgerichtshof) wird die Frage dringlicher, ob in einem Tribunal ein Urteil gesprochen werden muss oder ob Tribunale Orte der Ausbildung kritischer Urteilkraft sein sollen. Welche anderen Formen des Tribunals sind möglich, die nicht durch ein Urteil abgeschlossen werden oder werden können?

Der Workshop möchte die Rolle des Tribunals oder des „Tribunalischen“ in modernen Lebenswelten untersuchen. Dabei sollen auch künstlerische Positionen in den Blick genommen werden, die Materialien versammeln, ausstellen und befragen, um eine dokumentarische Urteilskraft zu erproben. Dies können Installationen, Performances, Vlogs oder Aktionen in den sozialen Medien sein, welche auf verschiedene Weise auf die Tribunalisierung der Lebenswirklichkeit reagieren und Prozesse der Aushandlung initiieren, die nicht unbedingt durch ein Urteil abgeschlossen werden können und müssen. Geplant ist ein intensives Arbeitstreffen, bei dem nicht die Präsentation fertiger Texte, sondern kurze Impulse, Textkommentierungen und vor allem: die Diskussion im Vordergrund stehen sollen.

Programmablauf

Donnerstag, 2.12.

15.00 Uhr – Alexandra Kemmerer: Über uns selbst. Gericht und Tribunal in der Klimakrise.

17.00 Uhr – Jörn Etzold und Friedrich Balke: Einführung.

Freitag, 3.12.

09.30 Uhr – Anna Polze und Julia Schade: Das theatrale Dispositiv des Tribunals: NSU-Komplex auflösen.

10.45 Uhr – Friedrich Balke: Schluss mit dem Gericht? Urteilssucht und Urteilskraft bei Karl Kraus.

12.00 Uhr – Jan Harms, Jana Hecktor und Robin Schrade: Reddit und Nietzsches Genealogie der Moral.

13.00 Uhr – Mittagspause.

14.30 Uhr – Jörn Etzold: Andere Redeweisen. Nicht-urteilende Sprache bei Walter Benjamin und Werner Hamacher.

15.45 Uhr – Tilman Richter: Der Erzberger-Helfferich-Prozess. Tribunalisierung zwischen Recht und Geschichte.

16.45 Uhr – Dank und Verabschiedung.

Organisation: Friedrich Balke, Jörn Etzold, Jan Harms, Jana Hecktor, Tilman Richter, Anna Polze, Julia Schade, Robin Schrade 

In Kooperation mit Theater Forschung Ruhr.