Tagung: DOKUMENTWERDEN | Call for Papers


CALL FOR PAPERS

Auf welche Weise wird etwas zu einem Dokument? Bestimmungen des Dokumentarischen legen es üblicherweise nahe, dieses entweder von seiner Funktion her zu bestimmen (in Anlehnung an seine etymologische Wurzel von docere als ‚zeigen‘ und ‚lehren‘) oder aber über einen abgrenzbaren Gegenstandsbereich, der sich wiederum über seine (problematische) Referenz auf die Wirklichkeit definiert. Mit der Fokussierung auf das Dokumentwerden möchten wir die Prozesse – Übersetzungen, Mobilisierungen, Einsätze – in den Blick nehmen, die dem Dokumentarischen zugrunde liegen und eine derartige Zweiteilung unterlaufen. Dokumente (als mediale Artefakte der Dokumentation) erlauben dokumentarische Praktiken, fordern diese sogar ein, verlangen also einen spezifischen Umgang mit konkreten Materialitäten, der ihren Verweisungscharakter in Rechnung stellt. Umgekehrt sind es Praktiken des Zeigens, Bezeugens, Bewahrens oder Darstellens, die Dokumente erst kreieren und mediale Artefakte als Dokumentationen zu lesen erlauben.

Die Jahrestagung des interdisziplinären Graduiertenkollegs 2132 „Das Dokumentarische. Exzess und Entzug” möchte die Potenziale einer solchen prozessualen Bestimmung des Dokumentarischen sowohl in theoretischer Hinsicht als auch am konkreten Gegenstand erproben. Dabei schlagen wir vor, Prozesse des Dokumentwerdens entlang dreier Dimensionen zu ordnen, ohne dass damit eine vollständige Aufzählung möglicher Perspektiven vorgegeben sein soll. 

1 | Zeitlichkeit

Wie verhalten sich die Dokumentation von Zeit, die Zeitlichkeit von Dokumenten und Zeitdokumente zueinander? Zum einen soll nach den Temporalitäten des Dokumentarischen gefragt werden – nach der problematischen Referenz des Dokuments auf Vergangenes und Zukünftiges, zum anderen auch nach der Rolle, die der zeitlichen Dimension in der Erzeugung eines Dokuments zukommt.

Wie lässt sich über das Dokumentwerden vor dem Hintergrund gegenwärtiger Diskussionen um Zeitlichkeit nachdenken, die die Behauptung von Evidenz, Gegenwärtigkeit und Heterochronie kritisch in den Blick nehmen und ihnen z.B. queer-feministische, mehr-als-menschliche, dekoloniale Weisen des Dokumentwerdens entgegensetzen? Welche Rolle spielen hier auch die institutionellen und theoretischen Bedingungen und Zeitlichkeiten des Archivs oder forensische Praktiken der Beweisführung (z.B. in wissenschaftlich-künstlerischen Arbeiten von Lawrence Abu Hamdan oder Allan Sekula), in queerer Video-Kunst oder Film-Installationen (z.B. von Boudry/Lorenz oder Sharon Hayes) oder auch in (fiktionalisierenden) dokumentarischen Theateransätzen (z.B. bei Milo Rau, Rabih Mroué, Walid Raad). Vor diesem Hintergrund dokumentarischer Auseinandersetzung mit temporalen Strukturen wäre auch der Anspruch einer (algorithmischen) Datenverarbeitung zu befragen, die Zukunft dokumentierbar zu machen.

2 | (Zusammen)Arbeit

Des Weiteren richtet sich das programmatische Interesse der Tagung auf Prozesse des Arbeitens und Zusammenarbeitens, die auf die Hervorbringung von Dokumenten zielen. Unter welchen Vorzeichen und durch welche Arbeitsprozesse kann etwas zu einem Dokument werden? Welche Akteur:innen sind in diese Prozesse involviert? Welche Formen von (im)materieller oder auch Care-Arbeit stecken im Dokumentwerden und wie lassen sie sich sichtbar machen? Fragen wie diese lassen sich z.B. an die komplexen arbeitsteiligen Produktionsprozesse in Film und Photographie herantragen oder auch an Dokumentarisierungen des Alltags in den Sozialen Medien. Lässt sich das Dokumentwerden als kollaborative Praxis beschreiben? Und welche politischen und ethischen Fragen spielen dabei eine Rolle? Wie wäre – in Anlehnung an Ariella Azoulay – ein ‚Civil Contract‘ des Dokumentarischen zu begreifen?  

Darüber hinaus stellt sich die Frage nach dem Dokumentwerden der Arbeit selbst. Wie verhalten sich gegenwärtige und historische dokumentarische Arbeit und die Dokumentation von Arbeit zueinander und wie prägt diese Spannung ihre medialen Formen, z.B. in der Beschreibung von Arbeit als Ausgangspunkt einer marxistischen Gesellschaftskritik bei Friedrich Engels, in Undercover-/Sozialreportagen, der Arbeiterkorrespondenzbewegung in der Weimarer Republik oder auch im wortwörtlichen Dokumentwerden von Subjekten und Arbeitsprozessen unter den Bedingungen von Bürokratie und Verwaltung? 

3 | Materialisierung

Schließlich gilt es, das Dokumentwerden als einen Prozess der Materialisierung zu betrachten. In welchem Zusammenhang stehen dokumentarische Praktiken und ihre materiellen Voraussetzungen, inwiefern lässt sich dokumentarisches Material als Ressource begreifen und welche Rolle kommt dem Dokument in einer Ökonomie der globalen Extraktion zu? An dieser Stelle wäre auch eine Verschiebung der Perspektive zu erproben, mit der weniger repräsentational-symbolische Qualitäten von Dokumenten als vielmehr deren materiell-indexikalische Eigenschaften in den Blick geraten – vom Artefakt zum Relikt. Auch ist an Ketten der Übersetzung, Umwidmung und Rekontextualisierung dokumentarischer Infrastrukturen zu denken, die nicht zuletzt den technologischen Stand einer globalen ‚Sicherheitsarchitektur‘ für Praktiken der Gegen\Dokumentation eröffnen, z.B. in den Arbeiten Trevor Paglens oder Natascha Sadr Haghighians. Hinzu kommt in der Auseinandersetzung mit der materiellen Dimension des Dokumentwerdens auch die Thematisierung des ‚Eigensinns der Dinge‘ (Hans Peter Hahn), die Befragung des nicht-intentionalen Überschusses, den jedes Dokument seiner materiellen Beschaffenheit verdankt. So ist beispielsweise auch die schriftstellerische Arbeit eine Arbeit am Papier, dessen Materialität und agency in der Reflexion literarischen Schaffens (z.B. als Schreibszene) selbst zur Sprache kommen.


Für die gemeinsame interdisziplinäre Diskussion dieser Ansätze freuen wir, die Doktorand:innen und Post-Doktorand:innen des Bochumer Graduiertenkollegs, uns insbesondere über Beiträge aus den Medien-, Literatur-, Film-, Kunst-, Bild-, Theater-, Kultur-, Sozial- und Politikwissenschaften sowie über praxeologische Untersuchungen und Formen des artistic research, aber auch über künstlerische Formate. Neben wissenschaftlichen Vorträgen ist die Tagung offen für alternative Präsentationsformen, sowohl in deutscher als auch englischer Sprache.

Für die Beiträge ist eine Länge von 15-20 Minuten vorgesehen. Wir bitten um Abstracts im Umfang von max. 3000 Zeichen und eine Kurzbiographie per E-Mail an dokumentwerden-tagung@rub.de. Deadline ist der 30. November 2021.

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