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Ringvorlesung „Das Dokumentarische V“ im WiSe 2023/24

Das Graduiertenkolleg veranstaltet im Wintersemester seine nunmehr fünfte Ringvorlesung. Diese wird insgesamt siebenmal donnerstags von 10 bis 12 Uhr in den Räumlichkeiten der Universitätsstraße 105 in Raum Uni 105, EG 0/14 stattfinden. Weitere Informationen zu den einzelnen Vorträgen finden sich untenstehend.

Die Vorträge von Paulena Müller und Lisa Römer am 11.01.2024 finden wegen des Bahnstreiks in hybrider Form statt. Der Zoom-Link findet sich hier.

Veranstaltungsinfo:

Das an der Ruhr-Universität Bochum angesiedelte DFG-Graduiertenkolleg „Das Dokumenatsrische. Exzess und Entzug“ behandelt – seit seinem Bestehen im Jahr 2016 – das Dokumentarische als eine zentrale Komponente zeitgenössischer Medienkulturen. In der zweiten Förderphase des Kollegs, die im April 2021 gestartet ist, wird insbesondere ein Konzept des Dokumentwerdens entfaltet.

Die interdisziplinären Forschungsarbeiten des Kollegs aus den Bereichen Medienwissenschaft, Theaterwissenschaft, Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte lassen sich dabei alle von der These leiten, dass die spezifische Autorität des Dokumentarischen durch die Untersuchung der Operationen beschreibbar wird, die im Rahmen unterschiedlicher Institutionen und Praktiken auf je spezifische Weise bild-, text- und tonmediale Elemente so arrangieren, dass diese die Lesbarkeit, den Aussagewert, die Distributionslogiken und die Machtwirkungen des Dokumentierten steuern. Entgegen einer einflussreichen Theorietradition beschränkt das Forschungsprogramm seine Perspektive in diesem Sinne explizit nicht auf den visuellen Modus des Dokumentarischen und privilegiert auch nicht ein bestimmtes (etwa filmisches) Medium. In den Forschungsprojekten stehen vielmehr höchst diverse Gegenstände im Fokus, die in wechselseitige Beglaubigungsverhältnisse eintreten können, um einen dokumentarischen Effekt zu produzieren.

Die nunmehr fünfte Ringvorlesung des Kollegs soll erneut dazu dienen, zentrale Forschungsergebnisse zu präsentieren und darüber mit Hochschulangehörigen aus allen Fachrichtungen ins Gespräch zu kommen. Neben den Doktorand_innen der mittlerweile dritten Generation, kommen hier auch die aktuellen Post-Doktorand_innen sowie die am Kolleg beteiligten Professor_innen und Forschungsstudierende zu Wort. Zudem wird viel Zeit für gemeinsame Diskussionen eingeplant, an denen sich alle Anwesenden beteiligen können.

Studierende haben die Möglichkeit, einen (unbenoteten) Teilnahmeschein zu erwerben. Neben der regelmäßigen Anwesenheit und Diskussionsbereitschaft sollen für die erfolgreiche Teilnahme vier kurze „Dokumentationskarten“ verfasst werden (jeweils 1-2 Seiten, gerne gebündelt als PDF per E-Mail an das-dokumentarische@rub.de bis spätestens zum 31. März 2024). Auf diesen „Dokumentationskarten“ sollen jeweils ein Vortrag pointiert zusammengefasst und zudem zwei bis drei weiterführende Fragen formuliert werden. Master-Studierende müssen zudem zusätzlich noch ein ca. fünfseitiges Essay einreichen (ebenfalls per E-Mail), in dem einer der dokumentierten Vorträge sowie die daran anschließende Diskussion ausführlicher dargestellt und die Thematik eigenständig weitergedacht wird.

Die Veranstaltung soll als reine Präsenz-Veranstaltung im dem Gebäude Universitätsstraße 105 (Raum EG014) stattfinden, in dem auch das Kolleg angesiedelt ist. Das Gebäude liegt auf halbem Weg zwischen den U35-Haltestellen „Oskar-Hoffman-Str“ und „Waldring“.

Programm der Vorlesung:

02.11.2023

FRIEDRICH BALKE
Solche Schuhe würde ich meinem Typen kaufen.“ Slumökologie und das Gelächter der infamen Menschen
Moderation: Lisa Römer

Vortrags-Abstract

Im Zentrum des Vortrags steht die Idee infamer Archive, die Eindrücke erzeugen, „von denen man sagen kann, daß sie ‚physisch‘ sind“ (Foucault). Im Anschluss an die Zurückweisung der akademischen Konzepte des Archivs und seiner Zurichtung als Wissensressource zugunsten dessen, was Julietta Singh das „Körper-Archiv“ nennt, sollen Formen des archivbezogenen Schreibens untersucht werden, die nicht aus der sicheren Distanz des Historikers praktiziert werden, sondern auf Techniken der Inkorporierung beruhen: „Ein kleiner Akt, einen anderen Körper in den eigenen aufzunehmen“, so ließe sich mit Singh die infame Operation eines anderen Archivschreibens kennzeichnen. Die infamen Leben, die in Foucaults berühmtem Essay auftreten, lassen sich nicht auf den Status von Dokumenten reduzieren, denn aus dem „Schock“ der wenigen überlieferten Wörter, die von ihnen handeln, entsteht „für uns immer noch ein Effekt von Schönheit und Schauer“. Saidiya Hartman nimmt diesen Impuls auf, wenn sie in ihren Arbeiten zum Archiv der transatlantischen Sklaverei und deren Nachleben in den Slums und Ghettos ihrerseits eine „schreckliche Schönheit“ und ein „intimes Leben“ ausmacht, die sich den Blicken und Kategorien der Slumökologen, ihren Aufschreibesystemen und technischen Medien entziehen.

KATHARINA MENSCHICK
In Anbetracht der Stille – Gewalt und Leerstellen in Dokumenten nationalsozialistischer Verfolgung
Moderation: Lisa Römer

Vortrags-Abstract

Ausgehend von einem Amateurfilm, in dem Menschen zu sehen sind, die im Nationalsozialismus als Rom:nja und Sinti:zze verfolgt und höchstwahrscheinlich im März 1943 – kurz nach der Entstehung der Filmaufnahmen – deportiert und ermordet wurden, widmet sich der Vortrag Fragen zu Leerstellen und Gewalt in den archivischen Überlieferungen aus der Zeit des Nationalsozialismus. Dokumente aus der Perspektive der Verfolgung dominieren die offiziellen Archive, während die Stimmen der Betroffenen allergrößtenteils fehlen. Entlang des Films, seines Nachlebens und archivischer Recherchen dazu sollen im Dialog mit Arbeiten von Tina M. Campt, Saidiya Hartman und Georges Didi-Huberman Betrachtungsweisen entwickelt werden, die „darüber hinausgehen, nur die Gewalt nachzuerzählen, die diese Spuren im Archiv hinterlegt hat“ (Saidiya Hartmann, Venus in Two Acts, übers. v. Yasemin Dinçer) und sich an die Seite Jener stellen, deren Leben und Leiden in ihnen aufgezeichnet wurde.

23.11.2023

MONIKA SCHMITZ-EMANS
Oberflächen, Schriften, Namen. Zu Archiv und Memoria bei Maria Stepanova, Nach dem Gedächtnis (2018, im Orig. russisch: Pamjati, pamjati, 2017)
Moderation: Robin Schrade

Vortrags-Abstract

Die russische Autorin Maria Stepanova nimmt die Hinterlassenschaften ihrer verstorbenen Tante Galja zum Anlass der Recherchen über die Geschichte ihrer verzweigten Familie:
Textträger, Fotos, Briefe, Dokumente, weitere Materialien zur Familiengeschichte, aber auch Gegenstände des Alltags und andere Objekte. Sie behandelt und nutzt das Vorgefundene als ein Archiv, erweitert ihr persönliches familiengeschichtliches Archiv aber auch um andere Dokumente, Bilder, Objekte, nicht zuletzt auf Reisen an familiengeschichtlich relevante Orte und durch Gespräche mit Verwandten. Das erzählende Ich verwandelt durch sein Schreiben Angesammeltes in eine Sammlung von Erinnerungsstücken. Es ‚sammelt’ anlässlich der Befassung mit Familiengeschichtlichem auch sich selbst. Komplementär zur Konstitution von Sammlungen verlaufen Dispersionsprozesse; gerade aufgelöste Haushalte erinnern auch daran. Stepanovas Vorgehen bei der erzählenden Rekonstruktion der Familiengeschichte verbindet sich mit Reflexionen über das eigene Tun. Dies gibt Anlass, den Begriff des Archivs auf seine verschiedenen möglichen Bedeutungen, seine Implikationen und seinen Zusammenhang mit Konzepten des Erinnerns zu befragen und die spezifische Leistung literarischer Darstellungsweisen als Ausprägungsformen der Memoria zu erörtern.

07.12.2023

YING-SZE PEK
Hito Steyerl’s Documentary Approaches in the Digital Age
Moderation: Katharina Menschick

Vortrags-Abstract

Examining Hito Steyerl’s video installations from the 2010s and 2020s, this lecture explores how the artist and filmmaker who maintains her “fundamental approach as a documentarian” might pose critical interventions under digital racial capitalism. By studying Steyerl’s deployment of successively advanced image production technologies—such as image compositing, digital simulation, and next-frame prediction algorithm images—as well as her purpose-built installation architectures, I posit that her work since the 2010s involves a performatively adduced digital excess that departs from conventional documentary techniques. At the crux of Steyerl’s address of algorithmic rationalization and extractivization are aesthetic operations in excess of and difference to filmic and photographic documentary operations. Reflecting the reconfigured relationship between bodies, images, and reality today, Steyerl evokes a computational universe in which images and subjects alike are entangled in totalizing infrastructures.

AMELIE WEDEL
(Ver)Störende Landschaften. Dokumentarische Beziehungsarbeit im ökologischen Film
Moderation: Katharina Menschick

Vortrags-Abstract

Ausgehöhlte Böden, kultivierte Ackerflächen, Wirtschaftswälder: Kaum ein Landstrich, der nicht von menschlichen und industriellen Aktivitäten um-und überformt wurde. In meinem Vortrag stelle ich entlang ausgewählter Filmbeispiele dokumentarische Darstellungen dieser anthropogenen Landschaften vor und frage nach den verschiedenen darin erkennbar werdenden Mensch-Natur-Beziehungen. Dabei kommen sowohl extraktivistische als auch fürsorgliche Umgangsweisen mit Ökosystemen und ihren Bewohner:innen zum Vorschein. Über Fragen der Repräsentationen hinaus beschäftigen mich Möglichkeiten einer kinematorgrafischen Praxis, einer Arbeit mit und durch die Kamera, die umsichtige und den Menschen de-zentrierende Zugänge für ein artenübergreifendes Zusammenleben erproben. Im Fokus stehen dabei dokumentarischen Verfahren der Beschleunigung und Verlangsamung, der Multiperspektivität, der Störung und der Ungerichtetheit. Mit diesen formalästhetischen Entscheidungen reagieren zeitgenössische artist films auf ein im Zeitalter des Anthropozäns vielfach ausgerufenes Naturparadigma (u.a. Donna Haraway, Astrida Neimanis, Anna Tsing, Zoe Todd in den environmental humanities), welches die Trennung zwischen Natur und Kultur zu überwinden sucht.

14.12.2023

ANNA GRELIK & ROBIN SCHRADE
AI-MAPPING / MAPPING AI. Dokumentarische Operationen des Kartografierens
Moderation: Vesna Schierbaum

Vortrags-Abstract

Kartografische Verfahren erleben seit Jahren eine ungebremste Konjunktur. In weiten Bereichen von Arbeitsalltag und Privatleben werden (geografische) Karten angefertigt. Hierfür werden Daten strukturiert, visualisiert und anwendbar gemacht. Bei der Erstellung, Pflege, Darstellung und Nutzung der diversen Karten sind häufig komplexe digitale Systeme und Bildgebungsverfahren im Einsatz. Hierbei handelt es sich insbesondere um maschinelle Lernsysteme, Programme zur Geodatenanalyse und Bilderkennungssoftware, die oftmals als sogenannte „Künstliche Intelligenz“ zusammengefasst werden. Sie können eingesetzt werden, um ausgehend von gigantischen Datensätzen, übersichtliche und zugleich flexible Maps zu verwalten, die den Anwender:innen je nach Bedürfnis verschiedene dokumentarische Szenarien und Strukturen vor Augen führen.
In unserem Vortrag wollen wir dieses Mapping als ein dokumentarisches Verfahren erörtern, das Welt erfasst, Wirklichkeit gestaltet und dabei selbst laufend neuen Transformationsprozessen unterworfen ist. Anhand des künstlerischen Projekts Asunder von Tega Brain, Bengt Sjölen und Julien Oliver und dem infografischen Forschungsprojekt Anatomy of an AI-System von Kate Crawford and Vladan Joler sowie ausgehend von Map-Applikationen Sozialer Netzwerke (wie z.B. Snap Map) wollen wir über die Visualisierungsstrategien, die implizierten Utopien dieser weltumspannenden Infrastrukturen, aber auch über die Grenzen und das Nicht-Darstellbare von AI-Maps nachdenken.

11.01.2024

PAULENA MÜLLER
Trans* ganz privat: Filmische Geschlechterpolitiken des Besuchens
Moderation: Hannah Schmedes/Philipp Hohmann

Vortrags-Abstract

Trans*Sichtbarkeit im Film steigt seit einigen Jahren bemerkenswert an. Die dadurch mit entstehende öffentliche Zugänglichkeit von Transgeschlechtlichkeit ist ambivalent: Medial vermittelte Vorstellungen von Lebensmöglichkeiten jenseits zweigeschlechtlich normierter Zuordnungslogik können sowohl widerständiges Potenzial entfalten als auch die Stigmatisierung, Ausgrenzung oder Reglementierung von Trans*Subjektivität erhöhen. Eine besonders brisante Rolle spielt dabei die Verhandlung der körperlichen Privatsphäre von Trans*Personen. Wie aber verhält es sich mit der Darstellung von räumlicher Trans*Privatsphäre? Welche geschlechterpolitischen Potenziale liegen in der Dokumentation von häuslichen Räumen als subjektive Gestaltungsräume für Trans*Personen? Welche Machtdynamiken entstehen durch das Eintreten medialer Öffentlichkeit in diese Räume, durch den filmischen Besuch? Und wie lässt sich ihnen begegnen? Der Vortrag geht diesen Fragen anhand zeitgenössischer Filmbeispiele nach und stellt dabei die Überlegung in den Mittelpunkt, inwieweit eine trans*emanzipative Sichtbarmachung häuslicher Privatsphäre diese Privatsphäre auch gegenüber dem eintretenden Filmblick behaupten kann und muss.

LISA RÖMER
Zwischen Magie und Menstruation. Körperlichkeit, Wissen und Kapitalismus im Kontext der Hexenverfolgung
Moderation: Hannah Schmedes/Philipp Hohmann

Vortrags-Abstract

Hexen sind ambivalente Figuren. Einerseits sind sie Heldinnen der Popkultur und Identifikationsfiguren feministischer Gruppierungen. Andererseits wurden sie im Europa der Frühen Neuzeit und in einigen ehemaligen Kolonien bis heute brutal verfolgt und ermordet.
Mit der Ambivalenz der Hexe wird sich dieser Vortrag auseinandersetzen.
Denn wie ist ein Sprechen über die Hexenverfolgung und eine mögliche (feministische) Wiederaneignung von Geschichtsschreibung möglich, wenn doch das Archiv schweigt und es keine Quellen aus Perspektive der Verfolgten gibt? Wie kann die Geschichte von vermeintlichen Hexen erzählt werden, ohne die der Täter(*innen) gewaltsam zu reproduzieren?
Und welche Konsequenzen hat der systematische Mord dieser als Hexen angeklagten und marginalisierten Personen bis heute, insbesondere auf die Trias Subjekt – Wissen – Macht in einer (post-)kolonialen kapitalistischen Welt?
Auf diese Fragen wird der Vortrag wohl kaum Antworten liefern können. Daher soll stattdessen die Verschränkung von Körperlichkeit – Wissen – Kapitalismus im Vordergrund stehen. Anhand des Beispiels der Abjektifizierung von Menstruation soll untersucht werden, wie die Auslöschung weiblichen Wissens und die damit einhergehende Institutionalisierung von Medizin und die Geburt der Klinik anhaltende Auswirkungen auf die Abwertung weiblicher* Körper und ihrer natürlichen Funktionen hat.
In diesem Vortrag wird die commodity-aktivistische Ausbeutung der Hexenfigur bei gleichzeitiger feministischer Aneignung anhand des Beispiels des US-amerikanischen Periodenprodukteherstellers De Lune illustriert.

18.01.2024

VINCENT KANCANS
Mobile Listening and Nostalgia for Lost Autonomy
Moderation: Sandra Biberstein

Vortrags-Abstract

This lecture is based on chapter 2 of my dissertation, where I revisit Shuhei Hosokawa’s acclaimed research on the Walkman effect in the 1980s. Portable tape players restructured the social sphere and modulated the subjective experience of urban environments in favor of autonomy. Instead of creating ‘lonely crowds,’ mobile listening enabled a tacit form of being-together. I examine Hosokawa’s reading of Lyotard vis-à-vis personal autonomy, link it to the latter’s dispute with Habermas, and ask if (mobile) tape’s restructuring of communication favors consensus, dissensus, or a combination of both. I also cite Werner Konitzer’s media-philosophical analysis of recording technologies and his Wittgensteinian viewpoint, where technical media such as tape and tape recorders are a “fundamental form of world disclosure” inextricably bound to the social medium of language (Konitzer 2006). The technicity of tape differs from later platforms that prioritize immateriality, convenience over control, and an always-online paradigm. In this connection, I raise the question of nostalgia for an irretrievable, utopian ‘past future’ represented in the individual and social worlds opened by tape.

ELISABETH VAN TREECK
Akustische Denkmalpflege • Liquid Architecture
Olga Neuwirths Le Encantadas 
Moderation: Sandra Biberstein

Vortrags-Abstract

Eine „liquid architecture“ habe sie sich mit Le Encantadas o le avventure nel mare delle meraviglie für sechs im Raum verteilte Ensemble-Gruppen, Samples und Live-Elektronik (2014/15) schaffen wollen, sagt Olga Neuwirth (*1968) in einem Interview. Welche kompositorischen und immersiven Strategien diesen widersprüchlich anmutenden, konzeptionellen Gedanken als dynamischen Klangraum Gestalt annehmen lassen, dem möchte dieser Vortrag nachgehen. Denn das Festgewordene der Architektur im Sinne einer Verflüssigung klanglich/klangtechnologisch zu unterspülen, dazu den Aufführungsraum und die Facetten eines virtuellen Klangraums auch im Wechselspiel von Innen und Außen in Bezug zu setzen – das benennt ein zentrales künstlerisches Interesse Neuwirths, dem sie u.a. in Kooperation mit dem Pariser IRCAM sowie inspiriert u.a. von Pierre Boulez und Luigi Nono seit den späten 1980er Jahren wiederholt nachgespürt hat. Neben auskomponierten Raumeffekten mittels Einsatz der Ensemble-Gruppen, Live-Elektronik und Ambisonics sowie der Verwendung von field recordings aus der Inselstadt Venedig ist Le Encantadas insbesondere von der Verarbeitung raumakustischer Daten eines konkreten architektonischen Raumes geprägt. Angetrieben von der Idee einer „akustische Denkmalpflege“ hat Neuwirth mit dem IRCAM die vom Verfall bedrohte Chiesa San Lorenzo in Venedig akustisch vermessen. Ziel war es, die Kirche als virtuellen Klangraum nicht nur andernorts auferstehen zu lassen, sondern dabei auch zu verändern und mit anderen Klangraumstrategien zu kombinieren. Der analytische Zugriff auf Le Encantadas erfolgt über die Ebenen der musikalischen Analyse, die auch eine Annäherung an die Klangtechnologie versucht, des phänomenologischen Zugangs sowie des Einbezugs der diskursiven Ebene im Hinblick auf ihre rezeptionslenkende Funktion, für die etwa der von Herman Melvilles Erzählung The Encantadas or Enchanted Islands (1854)
übernommene Titel bedeutsam ist.

01.02.2024

JÖRN ETZOLD
Dokumentation des Anthropophagen
Moderation: Philipp Hohmann

Vortrags-Abstract

In Traurige Tropen unterscheidet Claude Lévi-Strauss zwischen zwei Formen von Gesellschaft: Kannibalistische oder anthropophage Gesellschaften versuchen, das bedrohliche Andere in sich aufzunehmen (wodurch ihre Mitglieder sich auch selbst verändern). Gesellschaften der „Anthropemie“ hingegen (aus griechisch emein, erbrechen) zielen darauf ab, es „aus dem sozialen Körper auszustoßen“ und „zu isolieren“. In diesem Sinne wäre jede behördliche, rechtliche oder politische Dokumentation, die Fakten festhält und Personen identifiziert, dem anthropemischen Paradigma verpflichtet. Mit der Doppeldeutigkeit von genitivus subiectivus und obiectivus spielend, soll diese Vorlesung hingegen die Dokumentation des Anthropophagen untersuchen, unter Rückgriff auf Hans Staden, Michel de Montaigne, Oswald de Andrade, Darcy Ribeiro, Silvia Federici, Eduardo Viveiros de Castro und Suely Rolnik. Dabei stehen insbesondere Fragen von Recht und Gewalt im Mittelpunkt.